Kirche morgen: «Klöster werden länger leben als Ortspfarreien»

Vor einigen Tagen trafen sich zahlreiche Menschen in der Pfarrei St. Konrad zu einer Art «Klassenzusammenkunft» ihrer ehemaligen Jugendgottesdienst-Gemeinschaft. Reto Müller (72) war damals einer der jungen Mitwirkenden. Worin sieht er die Unterschiede in der Kirche von heute und morgen?

Reto Müller*, die Kirche war beim Gottesdienst voll. Wie deuten Sie diese anhaltende Verbundenheit, obwohl diese Jugendgottesdienste schon über eine Generation zurückliegen?
Damals in den 60er und 70er-Jahren waren noch ganze Familien im Quartier und in der Kirchgemeinde zuhause. Zudem gab es noch nicht derart zahlreiche konkurrierende Freizeitangebote wie heute. Wenn die Pfarrei in diesen Jahren Grümpelturniere, Fasnachtsabende, Picknicks und ähnliche Anlässe organisierte, waren dies Begegnungen, die das Fundament für gemeinsame menschliche und spirituelle Erfahrungen ermöglichten. Das kann lebenslang nachhallen.

Aber reicht dafür bereits die Pfarrei als blosser Rahmen?
Der Mensch braucht Bindungen. Darauf basiert die Pädagogik von Josef Kentenich, die unseren damaligen Vikar und späteren Pfarrer August «Stini» Durrer geprägt hat. Er hat uns als jugendliche Weltverbesserer beharrlich dazu angehalten, unsere grossen Ideen in kleine Ideen zu übersetzen und auch zu verwirklichen. Also nicht nur von Revolutionen zu phantasieren, sondern konkret vor der Haustür etwas zu tun! Er vermittelte uns Besuche in Klöstern, im Gefängnis und mit schwerstbehinderten Kindern. Das hat uns lebendig gemacht und uns hoffnungsvollen Elan entwickeln lassen.

Glauben Sie, dass Kirche eine solche Wirkung auch heute noch erzielen kann?
Ja. Wer die Erfahrung macht, dass in der Kirche Leben geteilt wird – Alltagsleben, nicht nur religiöses – erkennt «die Kirche» als bedeutsamen Ort für seine menschliche Entwicklung. Ich habe damals in der Pfarrei Argumentieren und Auftreten gelernt. Dort sind auch Freundschaften fürs Leben entstanden.

Wird «die Pfarrei vor der Haustür» auch in Zukunft die wichtigste Form kirchlichen Lebens sein?
Für mich sind Klöster unterdessen ebenso wichtig geworden wie Pfarreien. Ich habe mehrere Klöster besucht und auch am Klosterleben teilgenommen. Sie bieten ein noch dichteres Gemeinschaftsleben als Pfarreien und faszinieren durch ihre Ausstrahlung und Kultur. Ich denke, sie werden länger leben als Ortspfarreien.

Sie haben viele Krisen der Kirche erlebt. Was wird die Kirche immer am Leben halten?
Weil sie bei all ihren Mängeln eben doch einen Ort bietet, wo wir unsere «Sehnsucht nach dem ganz anderen» festmachen können. Oder wie es die grosse Theologin Dorothee Sölle formulierte: «Am Ende unseres Lebens kommt keine Antwort, sondern eine Umarmung.» Das ist mit dem Wort Liebe gemeint, das man schon kaum mehr brauchen darf, weil es so abgegriffen ist.

Portrait: kath.ch

*Zur Person Reto Müller

Reto Müller ist in Zürich aufgewachsen, war mehrere Jahre lang Seelsorger und Pfarrer in Zürich und Schwyz sowie Spitalseelsorger. Er engagierte sich während den Zürcher Jugendunruhen mit Pfarrer Ernst Sieber, zudem beschäftigte er sich intensiv mit monastischer Spiritualität. Zu seinen prägenden Erlebnissen gehören auch die zahlreichen Reisen nach Taizé.

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