Titelbild_Jahresspiegel2019KatholischStadtZuerich
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Gregor Ehrsam

«Musik lässt sich nicht vereinnahmen.»

Er ist der Mann der grossen Töne – zumindest auf der Orgel. Der Kirchenmusiker Gregor Ehrsam spielt seit 30 Jahren in der Pfarrei Liebfrauen. In dieser Zeit hat er festgestellt: Misstöne müssen nicht zwingendermassen aus der Musik stammen. Aber die Musik hat die Kraft, sich über den Alltag zu erheben.

Da stand ich nun in der grossen St. Ursen-Kathedrale in Solothurn und spielte die Kirchenlieder des Kindergottesdienstes auf der Trompete, weil ich sie auf der Orgel noch nicht spielen konnte. Elf Jahre alt war ich da. Und als die Klänge den Raum dieses über 200 Jahre alten Gebäudes erfüllten, wusste ich: So was möchte ich immer wieder erleben.

Bei uns zu Hause stand ein Cembalo. Angeleitet von meinem Vater, machte ich darauf meine ersten Gehversuche, wechselte aber bald zur Trompete. Mein Vater spielte in seiner Freizeit Orgel und war Leiter eines Laienchors, meine Mutter war eine gefragte Chorsängerin. Das Musikalische habe ich also aus der Familie «mitgenommen». Als der Pfarrer uns in der Schule damals fragte, wer im Kindergottesdienst musizieren wolle, schnellte meine Hand hoch: «Ich!» Dann ergab sich eins ums andere.

Die Stelle als Organist in Liebfrauen war meine vierte als Kirchenmusiker, aber meine erste in einem Hauptamt. Studiert hatte ich in Bern und Zürich, abgeschlossen mit dem Konzertdiplom. Mit der Wahl an die Liebfrauenkirche entschied sich ein langer innerer Kampf zugunsten der Musik. Anfangs studierte ich nämlich Musik und Mathematik gleichzeitig. Die Kombination Musik und Mathematik ist übrigens keineswegs so ungewöhnlich – aber nur wenige bringen es fertig, in beiden Bereichen professionell zu sein.

An meinen Start in Liebfrauen im Oktober 1991 habe ich nicht sonderlich gute Erinnerungen. Er fiel mitten in die Kontroverse um den erzkonservativen Bischof Wolfgang Haas, dessen Einsetzung grosse Empörung auslöste. Das Klima in Zürich war angespannt. Da ich aber aus dem Bistum Basel kam, waren mir die Konflikte nicht bewusst. In Liebfrauen herrschte eine konservative Tonlage in den Predigten. Ich brauchte eine Weile, um mich damit zu arrangieren. Wohlverstanden: Es gibt zu Recht verschiedene Nuancen in der katholischen Kirche. Aber wenn Frauen während einer Predigt weinend die Kirche verlassen, läuft aus meiner Sicht etwas schief.

In der Folge machten die konservativen Speerspitzen auch vor meinem Privatleben nicht halt. Das war für mich eine sehr belastende Zeit, aus der ich zum Glück wieder herausfand. In der langen Zeit meines Wirkens an Liebfrauen gab es weitere Konflikte auszuhalten. Als Involvierter oder als Beobachter. Sie stimmen mich bis heute nachdenklich.

Klar drängt sich die Frage auf, warum ich dies alles mitgemacht habe. Darauf gibt es zwei Antworten: Zum einen war und ist mir immer bewusst, dass ich an einem privilegierten Ort wirken darf. Ich habe eine Organistenstelle inne, die wohl zu den interessanteren in der Schweiz gehört. Zum andern kann ich enorm viel Energie aus der Musik gewinnen, die ich machen darf.

Musik als Kunstwerk hat etwas Unantastbares an sich. Sie steht über allem, sie lässt sich nicht instrumentalisieren oder vereinnahmen. Wenn die Musik im Gottesdienst mit den Bibeltexten, mit einer guten Predigt und der Stimmung der Gottesdienstbesucher in einen Dialog treten kann, dann ist das etwas Grosses. Vielleicht gar etwas Sakrales.

Ich finde es wichtig, dass in eine Eucharistiefeier keine seichte Musik gehört, weil diese das Geschehen nicht angemessen spiegeln kann. Das gilt für Vokal- und Instrumentalmusik wie auch für Texte, die in einem Gottesdienst gelesen werden.

Es wird häufig moniert, dass die Sprache der Kirche die Leute nicht mehr erreicht. Soll man also unter dem Aspekt des Zeitgemässen die Bibel in der Sprache von WhatsApp-Nachrichten verfassen und in der Messe lesen? Das wäre tatsächlich ein hochinteressantes linguistisches Projekt, aber das will doch auch niemand. Warum soll dann aber die Musik seicht werden?

Soll oder will ich mich – und jetzt werde ich ein bisschen polemisch – als Kirchenmusiker oder als Gottesdienstteilnehmer ernsthaft mit einem Liedtext auseinandersetzen, der das sprachliche Niveau einer Agenturmeldung in der Zeitung hat? Nein, das will ich nicht – auch, wenn ich es dann manchmal trotzdem muss …

Jeder Musiker hat ein bisschen narzisstische Züge, das trifft wohl auch auf mich zu. Aber mit Musik ein sakrales Geschehen zu begleiten, erfordert paradoxerweise auch ein gutes Stück Demut.

Es ist mir bewusst, dass heute viel über die Gottesdienstform in der katholischen Kirche diskutiert wird. Dass man Wege sucht, sie moderner zu machen. Allerdings ist mir bis heute nicht klar, was es denn eigentlich zu modernisieren gibt. Ich befürchte, die Veränderungen könnten zu vordergründig sein. Die Versuchung ist gross, Geheimnisvolles versachlichen zu wollen, um es angeblich besser zugänglich zu machen. Geheimnisse wollen entdeckt werden, auch in der Musik!

Von meinen rund 250 Tonträgern daheim, CDs und LPs, sind die meisten immer noch klassische Musik, einige wenige Jazz. 250 Tonträger, das mag nach wenig klingen und ist es auch. Dass es nicht mehr sind, hat seinen Grund: Für mich geht nichts über live gespielte Musik. Das Abspielen von CD oder LP ist zwar Reproduktion von Musik, hat aber nicht den magischen Effekt, der eintritt, wenn die Musik live gerade entsteht.

Wie ich heute zur Kirche stehe? Ein Stück weit haben wir uns voneinander entfremdet. Wobei, nein, ich muss präzisieren: ich mich von der Kirche als Struktur und Organisation. Wie viele andere auch bin ich misstrauisch geworden ob dem Handling aller aufgedeckten Skandale. Ich frage mich zunehmend, ob die involvierten kirchlichen Würdenträger eigentlich die destruktive Sprengkraft ihres Verhaltens richtig einschätzen. Nach wie vor beeindruckt mich die Rolle der Kirche als Bildungsträgerin und Kulturvermittlerin, die sie in der Geschichte war. Da ist so vieles, was wir heute als Selbstverständlichkeit hinnehmen, aber ohne Kirche nicht möglich gewesen wäre. Bildung wird heute allerdings vom Staat übernommen. In diesem Bereich ist die Kirche abgelöst worden.

Um das Wort «Kerngeschäft» im Zusammenhang mit der Kirche zu verwenden: Das wäre in meinen Augen die Spiritualität in all ihren Facetten. Das müsste sie den Menschen anbieten und vermitteln können. Nur, wollen das die Menschen, sind sie dafür noch empfänglich? Nicht umsonst läuft aktuell das Reformprojekt «Katholisch Stadt Zürich 2030». Das Nachdenken über das kirchliche Angebot in der Stadt Zürich ist sicher ein guter Ansatz, um für die Zukunft gerüstet zu sein. Ich hoffe, dass Wege gefunden werden, die Glaubwürdigkeit und Authentizität kirchlichen Lebens zu erhalten beziehungsweise zu steigern.

«Jeder Musiker hat ein bisschen narzisstische Züge.»

Die Fakten  – Wissenswertes auf einen Blick

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