Die Diskussion um die Suizid-Kapsel «Sarco» ist wieder etwas aus den Schlagzeilen verschwunden. Das Thema – und die offenen Fragen dazu – werden uns aber noch weiter beschäftigen. Fredi Böni, Pfarrer in St. Gallus (Zürich-Schwamendingen) begleitet seit Jahrzehnten Menschen auf allen Stationen des Lebens. Ihn stimmt das Thema nachdenklich.
Fredi Böni, was geht Ihnen ganz persönlich durch den Kopf, wenn Sie die Diskussion um Sarco verfolgen?
Mich beschäftigt vor allem der Mensch, der diesen einsamen Tod wählt. Was führt zu einem solchen Entscheid? Ist es die Angst, andern mit der Krankheit eine psychische oder finanzielle Last zu sein? Sarco-Kandidat ist ein Mensch, der wie «übriggeblieben» ist, an den Rand des Lebens gespült. Was bleibt, sind die letzten, einsamen Augenblicke in einer geschlossenen Kapsel. Fein säuberlich von den Menschen und dem Leben bereits abgetrennt. Das ist unendlich traurig.
Aber viele Menschen suchen aus Verzweiflung Sterbehilfe – verstehen Sie diesen letzten Akt?
Ja, ich verstehe es, aber es erschüttert mich gleichzeitig enorm. Viele Menschen geraten in der heutigen Gesellschaft in eine Haltlosigkeit und Bodenlosigkeit. Alles bricht weg, sie gehören nirgends mehr dazu. Das führt zu einer Ausweglosigkeit, wenn Ohnmacht und Hilflosigkeit ins Leben dringen. Das einsame Sterben ist dann eine letzte Flucht nach vorne. Das ist logisch und völlig und verständlich. Die einzige Hilfe, die man sich zu holen wagt, ist die Sterbehilfe. Warum holt man sich aber keine Lebenshilfe?
Liegt es an uns, wie wir mit dem Tod leben?
Das Paradoxe ist: Wo der Tod nicht mehr zum Leben gehört, ist auch das Leben nicht mehr ganz. Mit meinen 77 Jahren komme ich aus einer anderen Zeit, das bin ich mir bewusst. Ich bin in einer ländlichen Kultur aufgewachsen. Unser Grosi war in Näfels die «lebendige Todesanzeige». Sie hatte den Auftrag der Gemeinde, von Haus zu Haus alle Leute zu informieren, wer neu in der Gemeinde verstorben war. So sprachen wir jedes Mal am Mittags-Familien-Tisch über diesen ‘Tod’. Schon als Kind besuchte ich dann regelmässig die Aufbahrungs-Kapelle mit dem offenen Sarg. Ich wollte diesen Menschen noch sehen – und falls ich ihn oder sie auch gekannt habe, noch ein letztes Mal die Hand drücken. Angst vor Berührung von Verstorben kannte ich nicht. Heute würde man wohl so einen nahen und greifbaren Bezug zum Tod wohl keinem Kind zumuten.
Wie erleben Sie den Umgang mit dem Tod heute?
Der persönliche Tod scheint mir ein absolutes Tabu zu sein, sowohl im persönlichen Gespräch wie im Alltag überhaupt. Der Todesfall in einer Familie wird dann unweigerlich zu einer Extremsituation. Die Abdankung findet oft still oder im kleinsten Familienkreis statt. Erst später wird der Tod der Person «nachgereicht». Offenbar will man den Tod und das Sterben mit niemandem teilen bzw. zumuten. Und man will sich schon gar nicht verletzlich und trauernd zeigen, weil wir den Tod, das Ende und das Vergehen nicht aushalten, weder zusammen noch allein.
Früher war der Pfarrer oft der letzte und unverzichtbare Beistand. Warum hat die katholische Kirche diese Rolle verloren?
Die Kirche wird im Zusammenhang mit dem Tod von vielen plakativ mit der letzten Ölung, mit dem Fegefeuer oder gar mit der Hölle in Verbindung gebracht. Das Leben, das in den sinnlich erfahrbaren Ritualen und in der geistlich-spirituellen Begleitung steckt, geht vergessen. Das ist ein riesiger Verlust, aber auch ein Versäumnis der Kirche selbst. Wir haben in einigen Punkten den Anschluss ans Leben und dessen Sprache verpasst. Die anderen hinlänglich bekannten Probleme der Kirche haben sicher auch nicht zu einer grösseren Offenheit zu unseren Ritualen und zur Seelsorge-Begleitung beigetragen. Wir müssen die Kraft und die Hilfe unseres Da-Seins für die Menschen erst wieder vermitteln lernen.
Sie begleiten seit Jahrzehnten Menschen durchs Leben. Was sind Ihre Erfahrungen, welche Sehnsucht tragen die Menschen in sich?
Es sind die entscheidenden Lebensfragen: Wozu bin ich auf Erden? Was hat mein Leben für einen Sinn? Wie erfahre ich Gott als ein Gott, der mit mir geht? Und dann vor allem und immer wieder die «Warum»-Frage. Bei all dem – so meine Erfahrung – suchen die Menschen ein Gegenüber, ein Du, das authentisch Rede und Antwort steht. Als Seelsorgender darf ich nicht ausweichen, muss ich meine eigenen Grenzen eingestehen und vor allem die Glaubenshoffnung und Zuversicht überzeugend vorleben. Das gilt vor allem in der Erfahrung angesichts des Todes.
Ich erlaube mir zum Schluss eine persönliche Frage: Welchen Tod wünschen Sie sich?
Ich möchte so leben, dass ich in jedem Augenblick fürs Sterben bereit bin … egal wo und unter welchen Umständen. Wenn es ein «ideales Sterben» gäbe, dann wäre mein Wunsch: Nach einem erfüllten, zufriedenen Leben möchte ich an einem vertrauten Ort noch so viel Zeit zur Verfügung haben, dass ich mich bei allen mir wichtigen Menschen bedanken und verabschieden kann – und auch entschuldigen, wo mich noch etwas bedrückt.
Haben Sie Angst davor, dass Schmerzen ihnen ein sanftes Ableben vereiteln könnten?
Ich hoffe, dass ich in meinem Gott-Vertrauen den letzten Abschnitt des Lebens so annehmen kann, wie er sich mir eröffnet. Das kann auch mit palliativer Begleitung sein.
Ist Sterbehilfe, beispielsweise mit Exit, eine Option für Sie?
Unvorstellbar für mich!
(Bild: Pixabay, Copyright Tumisu)