«Die grosse Schweizer Vielfaltsstudie» des Gottlieb Duttweiler Institutes (GDI) zeigt: Der Grossteil der Befragten wünscht sich mehr Orte der sozialen Begegnung, in der die Vielfalt der Schweiz erlebbar wird. Was heisst das und was könnte es für die Kirche bedeuten? Der Mitverfasser der Studie, Dr. Jakub Samochowiec, im Interview.
Wie entsteht dieses Manko an Begegnungsräumen?
Ein wichtiges Manko ist meiner Meinung nach das Fehlen von öffentlichen Räumen, die so attraktiv sind, dass sie verschiedene Bevölkerungsgruppen, Arm und Reich, Schweizer*innen und Ausländer*innen anziehen. Ein Beispiel in der Schweiz sind die Zugänge zu den Seeufern: Diese kommen oftmals nur wenigen Privilegierten zugute, die aber alle Menschen anziehen würden. Ein anderes Beispiel ist der Verkehr: Platzprivilegien für Autos verhindern ein Zusammenkommen. So zeigen Studien etwa, dass Menschen in wenig befahrenen Strassen eher ihre Nachbarn kennen.
Vielfalt kann auch Gräben aufreissen, wenn das Verbindende fehlt. Besteht die Gefahr in der Schweiz?
Diese Gefahr besteht überall. Und vielfach werden Konflikte ja per Social Media auch zu uns importiert. Wenn etwa irgendwo auf der Welt eine Person nicht das „richtige“ WC benutzt hat, kann man sich auch bei uns darüber aufregen. Im persönlichen Alltag erleben die allerwenigsten solche Probleme. Gleichzeitig hat die Schweiz durch ihre Kleinräumigkeit, durch ihren Föderalismus und die Tatsache, dass es ihr sozusagen in den Genen liegt, einen Vorteil im Umgang mit Vielfalt. Auch liegen die Gräben in der Schweiz, also etwa zwischen Arm und Reich, Stadt und Land oder der Röschtigraben, nicht übereinander wie in den USA.
Bisher boten viele Organisationen und Vereine solche Plattformen. Nun fehlen dafür aber auch immer mehr die Ehrenamtlichen. Wie kann dieses Vakuum gefüllt werden?
Viele soziale Strukturen und Milieus sind durch einen gesellschaftlichen Wandel weggebrochen – wir sind beispielsweise mobiler geworden und haben mehr Auswahlmöglichkeiten, unser Leben zu gestalten. Die Förderung von freiwilligem Engagement sollte deshalb nicht nur das Auffinden von Freiwilligen für vorgegebene Arbeiten beinhalten. Genauso gilt es, neue Strukturen, neue soziale Beziehungen aufzubauen, aus denen Engagement womöglich folgt.
Wie könnte dies konkret aussehen?
Erst einmal geht es aber darum, Gemeinschaft aufzubauen und Vertrautheit im Lokalen zu erzeugen. Letztes Wochenende besuchte ich beispielsweise mit meinen Kindern ein von der Kirche organisiertes Quartierfest mit Hüpfburg und Puppentheater. Da passiert diese Durchmischung automatisch.
Tun wir uns schwerer als früher, als Individuum Gemeinschaft zu suchen und aufzubauen?
Das mag schon sein und kann vielleicht sogar eine Folge von Vielfalt darstellen. So hat etwa ein homosexueller Teilnehmer in einer für die Studie durchgeführten Gesprächsgruppe berichtet, dass er vom Land in die Stadt ziehe, da die Gemeinschaft auf dem Land sein „Anders-sein“ scheinbar nicht akzeptiere. Ob es weniger Gemeinschaft oder einfach andere Gemeinschaften gibt, ist umstritten. Was sicher der Fall ist, ist, dass wir heutzutage mehr Auswahlmöglichkeiten haben und das dazu führt, dass uns Verbindlichkeit schwerer fällt. Man kann aber auch sagen, dass Gemeinschaft dadurch freiwilliger ist und es zuvor vielleicht nicht immer war.